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Martin Wetschers Trendbericht von der Mailänder Möbelmesse:
Wir bei Wetscher wissen, dass gute Innenarchitektur mehr ist, als das Aneinanderfügen von ausgesuchten Möbelstücken. Vielmehr geht es um das Kreieren eines Ambientes, das dem Menschen neue Perspektiven verschafft. Was in Mailand in diesem Jahr gezeigt wurde, bestätigt diese Haltung und lässt zugleich viel Raum für philosophische Interpretationen. Der gestalterische Gesamteindruck ist bei allen Präsentationen dekorativ und zurückhaltend, raffiniert und elegant sowie geradezu detailversessen. Kontrastiert wird diese Geradlinigkeit durch anschmiegsame, weiche Formen und warme Farben. Einmalige haptische Erlebnisse rufen ein Gefühl von Vertrautheit und Heimeligkeit hervor. Es entsteht der Eindruck, dass die Möbel für Halt und Geborgenheit sorgen möchten.
Während die klassischen Korpusmöbel exakt, scharfkantig und in immenser technischer Präzision ausgeführt sind, laden die Polstermöbel förmlich zum Versinken ein. Ergonomische Kurven und organische Rundungen sind mit plüschigen, hochflorigen Stoffen bezogen und scheinen eine Umarmung anzubieten. Teppiche aus einfachsten Materialien bringen ein Gefühl von Ursprünglichkeit in den Raum und eröffnen einen Spannungsbogen zu Glas und Metallschränken. Zu sehen ist ein nie dagewesener Mix aus Materialien – unheimlich gekonnt und überlegt eingesetzt. Leder, Holz und Stein, Marmor, Beton und Fell schaffen nicht nur vielfältige optische, sondern auch manuelle Reize. War bis vor kurzem alles noch glatt und geschliffen, lässt man den Materialien nun mehr Struktur. Oberflächen werden erfahrbar, Wände sind gespachtelt, offenporig, feinst geriffelt. Auch hier liegt der Gedanke nahe, dass den vielen cleanen, technischen Gegenständen des Alltags eine gewisse Ursprünglichkeit entgegengesetzt werden soll.
Auch die Farben scheinen in diesem Jahr die Gemüter eher beruhigen, als aufregen zu wollen. Gezeigt wurden sanfte Töne, Naturfarben in allen Schattierungen – Braun-, Sand- und Grautöne, die sehr respektvoll und einladend daherkommen. Terrakotta spielt eine maßgebliche Rolle – sowohl als Farbe, als auch als Material. Wenn mehr Farbe zu sehen ist, dann in verwässerten Berry-, Rot- oder Ockertönen. Als Kontrast haben einzelne Möbel schwarze Details aus Metall oder Holz, die für eine erwachsene Ernsthaftigkeit sorgen. Bunter als am Messegelände wird es in der Stadt – hier sind auch knallige Kontraste zu sehen, wie man sie nur in Italien aushält. Was dominiert ist Grün – und zwar in Form von üppigen Bepflanzungen, die bis über die Wände wachsen. Gedeckt bleibt es auch bei den Mustern. Wenn sie zu sehen sind, dann sich wiederholend, scharfkantig-geometrisch oder als freche Polka Dots.
Spielte das große Draußen schon in den vergangenen Jahren eine der Hauptrollen im Einrichtungsgeschehen, so ist der Outdoor Bereich nun endgültig auf seinem Zenit angekommen: Wirklich alle Premiummarken produzieren Gartenmöbel – mit Wittmann und Poliform haben die letzten beiden nachgezogen. Poliform zeigte im Kreuzgang des Klosters Chiostro Grande di San Simpliciano eine der schönsten Präsentationen der Messe.
Die Leuchtenhersteller haben in diesem Jahr nicht nur in den Messehallen für Magie gesorgt, sondern die ganze Stadt mit raffinierter Technik und herausragendem Design verzaubert. Alles, was man mit LED beleuchten kann, leuchtet. Dabei ist das Licht nicht immer in einer Lampe gefangen: jedes Möbel, jede Ritze, jede Fuge scheint unsichtbar Licht zu spenden. Die Stimmung variiert nach Bedarf zwischen kalt und warm. Das Licht wandert mit funktionalen wie ästhetischen Akkuleuchten nach draußen, folgt in den Garten, lässt sich an verborgene Plätze mitnehmen. Skulpturale Leuchten, wie die Kunstwerke von Brokis, stehen innovativen Designobjekten gegenüber. Spezialist für letztere ist der für sein präzises Gesamtkonzept bekannte Hersteller Occhio, der mit einer spektakulären Präsentation in der Orangerie der Villa Necchi Campiglio - Drehort des vielfach ausgezeichneten Films „House of Gucci“ - für Furore sorgte.
So einfallsreich und fantasiegewaltig die einzelnen Entwürfe auch sind – letztlich geht es immer um die Ausstrahlung des gesamten Raumes. Nur wenn das Gesamtbild stimmt, kann sich im Raum ein Selbstwertgefühl etablieren, dem das Innere nachkommt. Der Frühling ist ein guter Zeitpunkt für eine diesbezügliche Bestandsaufnahme. Reflektiert mein Zuhause noch mich selbst? Ab und zu muss der Mensch die eigenen vier Wände ins Hier und Jetzt bringen, damit einem die Wohnung die Hand reicht.